Montag, 25. Juni 2007

Aus dem Grenzgebiet - Ein Brief zur Nacharbeitung der WM und zur Erfindung der Nation

Dieser Artikel ist im u-asta-info vom 20.7.06 erschienen (Nr. 756) und ist auch im Internet abrufbar.

Liebe/r KommilitonIn,


ich möchte hier von einem in letzter Zeit oft behandelten Thema sprechen, nämlich der Welle von Patriotismus und Flaggen, die die WM in Deutschland ausgelöst hat. Nun ist die WM zu Ende, Deutschland ist Dritter geworden und alles scheint zurück in die Normalität zu kommen. Aber diese Welle ist meines Erachtens der Anlass gewesen, einen Wandel zu starten, der in Deutschland längst überfällig ist: Deswegen macht es Sinn, mit Dir eine Nacharbeitung zu unternehmen.

Nun sind wir beide eher linke, progressive Studierende. Du bist aber in Deutschland aufgewachsen und sozialisiert, hast Dich im Geschichtsunterricht oft mit der Terrorherrschaft des Nationalsozialismus auseinandergesetzt und in Gemeinschaftskunde gelernt, kühl und vorsichtig gegenüber jedweder deutscher Patriotismusbekündung zu bleiben. Du riechst im Patriotismus Rechtsextremismus. Ich dagegen komme aus einem Land, wo die Patriotismusbekundungen nicht selten sind – und manchmal sogar zu häufig stattfinden – und habe mich dort an eine andere Umgangsform mit diesen Bekundungen gewöhnt. Von diesem Hintergrund kommend, befinde ich mich in gewissem Sinne zwischen den Grenzen, im Grenzgebiet, und habe ein anderes Verhältnis zu den Freudezeichen im Rahmen der WM entwickelt.

Zu Recht kritisierst Du, dass diese Freudebekundungen etwas unkritisch sind. Die Menschen gehen auf die Strasse mit einer Fahne und vergessen dabei, dass es in diesem gefeierten Land Leute gibt, die unter Armut leiden, oder dass die Arbeitslosenzahlen riesig sind und sich hinter den Zahlen Menschen verbergen, die in dieser WM-Zeit keinen Grund zum Feiern haben, um nur einige der nicht erfreulichen Zustände beispielhaft und plakativ zu nennen. Zu Recht findest Du es merkwürdig, dass die VAG am vergangenen Samstag, als eine Kolonne von tausenden von Menschen zwischen dem Eschholzpark und dem Bertoldsbrunnen den Straßenbahnverkehr während einiger Stunden lahm legte, ihre Fahrgäste mit einem fröhlichen Ton darüber informierte und die BZ im gleichen Ton am Montag darüber berichtete. Hingegen werden Studierende von dieser Zeitung scharf kritisiert werden, wenn sie sich trauen, bei einer Demonstration gegen Studiengebühren fünf Minuten lang am Bertoldsbrunnen das Gleiche zu ernsthafteren Zwecken zu unternehmen… Ja, ich sehe auch einige unbehagliche Momente der Kritiklosigkeit in dieser neuen patriotischen Welle.

Aber ich muss gestehen, dass Deine Haltung einen Hauch von Überheblichkeit der – übrigens sehr deutschen – Figur des Bildungsbürgers hat, der auf die pöbelnden Massen herunterschaut und sie kritisiert, weil sie nicht dazu fähig sind, zur gleichen aufgeklärten und distanzierten, kritischen Haltung zu gelangen wie Du. Oder wenn wir es nicht so liberal, eher marxistisch ausdrücken möchten, erinnert mich Deine linke Perspektive an die totalisierende Sicht eines Orthodoxen, der gegen die entfremdeten, dummen und feiernden Massen spottet und dabei die Haltung eines Intellektuellen einnimmt, der sich eine aufklärende, proletarische Diktatur für das Volk, aber ohne das Volk wünscht.

Aber nicht nur diese überhebliche Haltung möchte ich nicht teilen. Auch wenn ich manche Aspekte dieses Feierns kritisch betrachte, kann ich mich des Weiteren mit Deinem radikalen Misstrauen gegenüber dem Inhalt dieser Freudebekundungen nicht identifizieren. Du gehst zu weit, wenn Du vor dem Anblick dieser Welle von Flaggen direkt zum Nationalsozialismus zurückgehst. Lass mich Dich daran erinnern, dass Schwarz-Rot-Gold diejenige Flagge ist, wogegen immer die reaktionären und die nationalsozialistischen Kräfte gekämpft haben – vergessen wir nicht den Flaggenstreit in der Weimarer Republik – und die die demokratischen Bewegungen in diesem Land repräsentiert. Aber die Flagge ist nur das Unbedeutendste. Auch in einem tieferen Sinne ist Dein Unbehagen meiner Meinung nach unberechtigt: Die Feiernden können sich ruhig mit dieser Flagge und diesem Land identifizieren, ohne dabei noch einmal das ewige deutsche „mea culpa“ zu wiederholen. Sie haben Gründe dafür. Über die Möglichkeit der Identifikation mit der bundesrepublikanischen Erfolgsgeschichte hat man schon vieles gesagt. Deswegen möchte ich mich hier auf ein sehr persönliches Beispiel beschränken, das vielleicht deshalb so bezeichnend ist, weil es sich dabei um eine aus dem Ausland kommende Würdigung handelt: Ich bin in einer sehr jungen, gerade sechs Jahre alten Demokratie geboren, drei Jahre nach dem letzten Staatsstreich gegen dieses junge System. Dass ich trotzdem in einem stabilen, schnell fortschreitenden Land aufwachsen konnte, war zum großen Teil der Tatsache zu ver danken, dass es Deutschland nach dem II. Weltkrieg es geschafft hat, nicht nur sich selbst, sondern das ganze Zentrum des Kontinents aufzubauen und mit dessen Nachbarn eine Gemeinschaft zu errichten, die die Herstellung von Wohlstand und Sicherheit gesichert hat. Es ist schwer abzuschätzen, wie sich Portugal, Spanien, Griechenland oder später Osteuropa ohne diese Gemeinschaft entwickelt hätten. Darauf kannst Du stolz sein.

Du wirst erwidern, dass diese Erfolge vielleicht unstrittig sind, dass man aber trotzdem auf die Rhetorik des Patriotismus verzichten kann, so wie es in Deutschland in den letzten Jahrzehnten anscheinend getan wurde. Aber gerade hier trennen sich unsere Geister entschiedenst: Meine Gegenmeinung lautet, dass nicht dieser neue Patriotismus, sondern das Fortführen seiner bisherigen Stillhaltung das Fortschritts- und Demokratiehemmende ist. Oder, positiv gesagt: Der neue Patriotismus kann eine demokratische Wirkung haben.

Der Verzicht auf Patriotismusbekundungen kann manchmal dienlich gewesen sein, aber ich erkenne in ihm eine Fortführung derjenigen Haltung, die den Staat von der Gesellschaft absetzen will und ihn als höhere, bessere und unpolitische Instanz ansieht – eine Haltung, die man nach dem 2. Weltkrieg eigentlich hinter sich lassen wollte, die aber im Volksmisstrauen eines Grundgesetzes, das nie im Referendum ratifiziert wurde, fortgeführt wird. Dieses Stillschweigen des Patriotismus teilt diese obrigkeitsstaatliche Angst vor einem Volk, das sich die Aufgabe stellt, die Inhalte und die Grenzen der Gemeinschaft demokratisch selbst zu bestimmen – eines Volkes, das sich also einer eminent politische Frage stellt. Nun sieht es endlich so aus, als ob man die Angst vor dieser zentralen, politischen Auseinandersetzung verloren hätte.

Entgegnen kannst Du mir, dass dieser Patriotismus ein Luftschloss ist, der nur dazu führen kann, bestimmte Menschen und Ideen auszuschließen und als illegitim zu schildern. Da muss ich Dir Recht geben: Wir haben in den letzten Jahrzehnten gelernt, dass die Identifikation mit einer landesweiten Gemeinschaft eine Erfindung ist und dass die Konstruktion einer solchen Gemeinschaft das Ausschließen bestimmter Ideen und Alternativen notwendigerweise mit sich bringt – auch, und vielleicht gerade, wenn diese Gemeinschaft demokratisch sein möchte. Aber der Gedanke, es gebe eine Alternative dazu, man könne auf eine solche Erfindung und Ausgrenzung verzichten, ist für mich zweifelhaft. Verzichtet man auf die Diskussion um die Inhalte und Grenzen unserer Gemeinschaft, lässt man diese Grenzen nicht verschwinden, sondern naturalisiert man sie und macht man dadurch deren demokratische Aushandlung unmöglich. Und gerade dieser naturalisierende, undemokratische Effekt ist der Kollateralschaden des Stillschweigens des Patriotismus, der in Deutschland in den letzten 60 Jahren – nicht zuletzt durch die politische Bildung – teilweise gefördert wurde: Man wollte mit gutem Grund die Wurzeln des Nationalsozialismus ausrotten und hat dabei vergessen, dass diese Wurzeln und die einer demokratischen, politischen Auseinandersetzung in der Moderne nah beieinander liegen.

Gestatte mir also, Dir eine Herausforderung zu schildern: Versuchen wir es mal, diese Erfindung anzunehmen. Geben wir den Versuch auf, diese Erfindung, diesen Patriotismus als gesellschaftliche Denkkategorie auszulöschen und eine internationalistische Utopie zu bilden. Und erkennen wir dabei das Potential dieser Denkkategorie – gerade als links gesinnte Menschen können wir es tun: Als Erfindung ist der Patriotismus gestaltbar, wandelbar, und das eröffnet die Tür für eine emanzipatorische Arbeit: Beteiligen wir uns also an seiner Gestaltung und bringen wir unsere Werte ein, um das Aussehen unserer Gemeinschaft zu prägen!

Vielleicht wird Dir mein Argument deutlicher, wenn ich Dich etwas aus dem Land erzähle, aus dem ich ursprünglich komme: Dort hat ein patriotisches Selbstverständnis es ermöglicht, einen sehr fortschrittlichen, vor einigen Wochen in einem Referendum akzeptierten Verfassungstext zu erarbeiten, der nicht nur die klassisch-liberalen Rechte des 19. und die sozialdemokratischen Rechte des 20. Jahrhunderts, sondern auch postmaterialistisch geprägte Ideen für das 21. Jahrhundert integriert wie die Gleichberechtigung, den Respekt vor vielfältigen Lebensweisen und Familienstrukturen (z.B. die gleichgeschlechtlichen Ehen), den Umweltschutz, das Recht auf ein anständiges Sterben, die Integration aller Mitglieder einer multikulturellen Gesellschaft usw. Warum sollte das in Deutschland auch nicht möglich sein? Nehmen wir also die Herausforderung an, ein Land zu gestalten, auf das wir stolz sein können – hier wird Dich dieses „Wir“ vielleicht überraschen, aber ich habe lange genug hier gewohnt, um eine „multiple identity“ zu entwickeln, die eine gewisse Identifikation mit diesem Land beinhaltet.

Wie könnte dieses Land aussehen, fragst Du mich? Dabei hast Du die Frage formuliert, um die sich eine demokratische Diskussion drehen sollte. Ich kann Dir hier also nur eine Skizze des sehr allgemeinen Bildes anbieten, mit dem wir als links gesinnte Menschen in diese Diskussion mit unseren Mitbürgern eintreten könnten: Patriotismus kann bedeuten, dass wir uns verantwortlich gegenüber unserer Gemeinschaft fühlen und uns deswegen verpflichten, im demokratischen Prozess mitzuwirken. Diese Idee kann mit dem Gedanken der Solidarität mit unseren Mitbürgern verbunden werden und uns gegenseitig dazu verpflichten, niemanden in der Armut oder in der Not leben zu lassen und niemanden aufgrund seines Geschlechts, seiner Religion, seiner sexuellen Vorlieben oder seiner Meinungen zu benachteiligen. Vergessen wir nicht: Diese Ideale sind mit dem Patriotismus, mit der Idee der Gemeinschaft der Citoyens, zur Welt gekommen.

Und die Erfindung eines kollektiven Gedächtnisses kann so gestaltet werden, dass wir Momente wie 1848, 1918 oder 1967, dass wir Denker wie Karl Marx oder Theodor W. Adorno, Dichter wie Bertolt Brecht und Alfred Döblin und Politiker wie Friedrich Ebert, Willy Brandt oder Petra Kelly hervorheben, um mit nur einigen, schnell und ordnungslos gesammelten Chiffren und Namen ein impressionistisches Bild vom Aussehen zu malen, das dieses Land annehmen könnte. Vielleicht kannst Du dieses Bild besser nachvollziehen, wenn ich was aus der Stadt erzähle, wo ich geboren bin: Dort hat Mies van der Rohe 1929 im Rahmen einer Weltausstellung den Pavillon der Weimarer Republik gebaut und für diesen Pavillon den Stuhl „Barcelona“ entworfen; zwei Werke, die lange Zeit, bis zum Aufkommen der Postmoderne, Standards in der Architektur gesetzt haben. Sie erscheinen mir heute jedes Mal, wenn ich sie betrachte, immer noch überraschend. Auf diese deutsche Geschichte(n) kann man doch stolz sein!

Die oben geschilderten notwendigen Ausgrenzungsmomente der Gemeinschaftsbildung werden Dich aber trotzdem noch nicht in Ruhe gelassen haben. Sie werden heute oft gegen rechtsextremistische Kräfte gewandt. Ausgrenzung kann also als Wehrhaftigkeit gegen denjenigen gestaltet werden, die das friedliche und demokratische Zusammenleben sprengen möchten. Die radikalen Relativisten mögen mich hier kritisieren, aber ich finde es angemessen.

Der Patriotismus kann uns auch dazu führen, stolz auf ein Land zu sein, das Menschen aus anderen Orten der Erde anzieht und versucht, diese Menschen zu integrieren. Eines der schönsten Bilder, die ich in den letzten Tagen gesehen habe, war das von Deutschen türkischer Abstammung, die mit deutschen Flaggen gemeinsam mit den anderen Mitbürgern gefeiert haben. Und der Patriotismus kann uns letztlich dazu helfen, die Verantwortlichkeit unseres Landes in einer globalisierten Welt zu erkennen, wo noch Kriege und Armut herrschen.

Dass Patriotismus all das bedeutet, ist in vielen anderen Ländern völlig normal. Aber dass der Patriotismus das und nicht Gewalt und Terror bedeutet, ist nicht gesichert. In der Herausforderung, seine positiven Seiten zu fördern, liegt gerade sein radikaldemokratisches, nie komplett einzulösendes Element und auch unsere Verantwortlichkeit. Außerdem kann er auch einen konservativen Touch nach der demokratischen Diskussion annehmen, wenn wir die Herstellung eines hegemonialen Selbstbildes des Landes in diesem zentralen Moment, wo dieses Gefühl in Deutschland wieder erwacht, anderen Subgruppen unserer Gesellschaft überlassen. Die WM hat die Chancen eröffnet: Seien wir also kreativ und mischen wir uns in der Erfindung unserer Gemeinschaft ein!

[Bertran studiert seit langem in Freiburg und hat vor kurzem im Aufsatz „Federalisme i Estat plurinacional. Conceptes i mecanismes institucionals per a la organització territorial d’una societat plural des de la radicalitat democràtica“ (hg. v. von der Stiftung Nous Horitzons, Barcelona 2006) versucht, auch seine katalanischen MitbürgerInnen für eine radikaldemokratische Diskussion über die Inhalte und Grenzen einer Gemeinschaft zu begeistern.]

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